René M. Querido – Ein Interview
René Querido wurde am 9. September 1926 in Amsterdam
geboren. Er besuchte Schulen in Holland, Belgien, Frankreich
und – nach einer abenteuerlichen Flucht der Familie aus dem
von den Nazis okkupierten Holland – in England. In seinem
21. Lebensjahr begegnete er der Anthroposophie. 1948
schloß er an der London University in Naturwissenschaft und
Mathematik ab. Ab 1949 unterrichtete er für fünfzehn Jahre
an der Michael Hall Waldorfschule in Sussex. Die Fächer waren:
Französisch, Geographie, Mathematik und Weltreligionen.
Von 1958 an war er auch als Klassenlehrer tätig. In den
60er Jahren wirkte er führend in der Lehrerausbildung von
Highland Hill, Los Angeles, mit. Ab 1967 hielt er Kurse an
Lehrerausbildungsstätten in Stuttgart und Paris und gab
Sprachunterricht an den Waldorfschulen von Bochum und
Engelberg. 1975 bis 1977 war er mitverantwortlich am Threefold
Center for Adult Education, Spring Valley, tätig, wo er
auch an der Green Meadow School unterrichtete.
1977 bis 1991 leitete er das Rudolf Steiner College in Fair
Oaks, Kalifornien. Seit 1991 lebt und wirkt er in Boulder,
Colorado.
René Querido wurde 1992, nach dem Tod von Werner Glas,
gebeten, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft
von Amerika zu werden. Im Jahre 1994 wurde er durch
ein Mitglied des Vorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen
Gesellschaft, entgegen einer früheren Abmachung,
vom Ende seiner Amtszeit in Kenntnis gesetzt.*
Querido war Gründer und Mitbegründer zahlreicher Schulen
und anthroposophischer Einrichtungen im In- und Ausland;
er hielt Vorträge in fast allen Teilen der Welt.
René Querido ist Verfasser mehrerer Bücher. Das einzige, bisher
auf deutsch erschienene Werk ist sein Chartresbuch, das
unter dem Titel Vision und Morgenruf in Chartres im Novalis
Verlag erschienen ist.**
Der Schreiber dieser Zeilen ist seit Mitte der 80er Jahre mit
René Querido in regem Kontakt. Er teilt mit ihm das menschliche
und sachliche Interesse an den ersten Schülern Rudolf
Steiners wie W. J. Stein, Jürgen von Grone, Astrid Bethusy
(die ältere Tochter von Helmuth und Eliza von Moltke) und
vielen anderen. Manche dieser Schüler hat Querido noch
persönlich gekannt. Das vorliegende Interview entstand aufgrund
der René Querido von mir zugesandten Fragen.
Thomas Meyer
* Siehe dazu: «Dornacher Manöver um einen Generalsekretär»,
Der Europäer, Jg. 3, Nr. 4, Februar 1999, S. 19f.
** Bestellungen an: Oratio Verlag, Fronwagplatz 20,
Postfach 1063, CH-8201 Schaffhausen.
TM: Könntest Du unseren Lesern etwas über Deinen biographischen
Hintergrund verraten, René? Dein Familienname
ist Spanisch und scheint auf spanische Vorfahren zu deuten.
RQ: Mein Familienname geht tatsächlich auf spanisch-
portugiesische Ursprünge im 15. Jahrhundert
zurück. Die Familie wurde zusammen mit den Spinoza,
Casuto, Pereira und anderen Familien – insgesamt waren
es zwölf – aus Portugal vertrieben und fand in Amsterdam
Zuflucht, wo sie eine portugiesische Gemeinde
gründeten. Unter den Queridos gibt es auch einen hervorragenden
Schriftsteller: Israel Querido, der am Ende
des letzten Jahrhunderts einige eindrückliche Bücher
auf niederländisch schrieb, im Stil von Dickens und Zola.
Er engagierte sich stark für die sozialen Fragen seiner
Zeit und wurde infolge seiner christlichen Neigungen
aus der Synagoge verbannt.
TM: Zu welchen frühen Schülern Rudolf Steiners hattest
Du nach Deiner Entdeckung der Anthroposophie besondere
Beziehungen?
RQ: Ich trat kurz nach meiner Begegnung mit der Anthroposophie
im Alter von einundzwanzig Jahren in der
Tat zu einer ganzen Reihe von sehr bemerkenswerten Persönlichkeiten
in nähere Beziehung. Folgende Menschen
hatten auf meine ganze Zukunft den größten und bedeutendsten
Einfluß: Dr. W. J. Stein, Dr. W. Zeylmans, Dr.
Lehrs, Dr. Maria Lehrs (-Roeschl), Dr. Herbert Hahn, Dr. M.
Kirchner-Bockholt, Erich Kirchner, Dr. van Deventer. Ich
hatte das Privileg, mit diesen Menschen während vieler
Jahre regelmäßig zusammenkommen zu können. Sie waren
immer dazu bereit, meine Fragen zu beantworten und
haben mich immer in beträchtlichem Maße ermutigt.
Der Europäer Jg. 3 / Nr. 9/10 / Juli/August 1999
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René M. Querido
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TM: Wenn ich mich recht erinnere, bist Du auch noch
Pierre Morisot begegnet, einem wichtigen Chartresforscher
und französischen Schüler R. Steiners?
RQ: Ich traf Pierre Morisot bei verschiedenen Gelegenheiten
in Paris, vom Jahre 1954 bis zu seinem Tod.
Wir unterhielten uns gewöhnlich in einem Bistro im
Quartier Latin. Er befaßte sich in tiefer Weise mit der
Gralssage von Chrestien de Troyes. Er erzählte verschiedentlich
von Marie de Champagne, die Chrestiens Inspiratorin
war. Er war auch mit Chartres verbunden –
und half mir, die Geologie des Felsplateaus zu verstehen,
auf welchem die Kathedrale errichtet wurde – eine
Mischung von Granit und dem Kalkstein der Region.
«Typisch für alte Druidenkreise», sagte er. Morisot war
ein freundlicher, hochgebildeter französischer Gentleman,
der leise, aber bestimmt sprach. Er war Ingenieur
gewesen.
TM: Du hast nicht nur
Walter Johannes Stein oftmals
getroffen und erlebt,
sondern auch den jungen
Trevor Ravenscroft, der nach
Steins Tod das äußerst
problematische Buch The
Spear of Destiny verfaßte.1
Wie war Dein Verhältnis zu
ihm und diesem seinem
Werk?
RQ: Ich lernte Trevor Ravenscroft
erst nach dem
Tod von W. J. Stein [am 7.
Juli 1957] kennen. Wir befreundeten uns, doch vieles,
was er tat und sagte, konnte ich nicht akzeptieren.
Er drängte mich dazu, ein Gralsbuch
zu schreiben, was ich ablehnte.
Als ich ihn viel später, im Jahre
1976, mitten in der Nacht in London
wiedertraf und ich im Begriffe
war, etwas Kritisches zu seinem inzwischen
erschienenen Buch zu
sagen, unterbrach er mich mit der
Bemerkung, daß er es einfach um
des schnellen Geldes willen geschrieben
habe. Ich wies zu verschiedenen
Zeiten in Artikeln darauf
hin, daß ein Drittel seines
Buches stimme, ein Drittel aus
Halbwahrheiten bestehe und ein
Drittel einfach seiner fruchtbaren Phantasie entsprungen
sei.
TM: Du bist auch einmal Astrid Gräfin Bethusy-Huc begegnet.
Wie war Dein Eindruck von dieser Tochter von Helmuth
und Eliza von Moltke, die im Leben ihrer Eltern eine
bescheidene, aber bedeutende Rolle spielte?
RQ: Da dies eine sehr bewegende Geschichte ist,
möchte ich etwas ausholen und erzählen, wie es dazu
kam, daß ich sie im September 1958, drei Jahre vor
ihrem Tod, besuchen konnte.
Es war einige Monate vor dem Tod von W. J. Stein im
Sommer 1957. Schon seit einer Reihe von Jahren war ich
von Stein darum gebeten worden, ihm jeweils die Themen
anzugeben, über die er in Michael Hall an Mittwochabenden
sprechen sollte. Immer wieder und wieder fragte
ich ihn zwar, worüber er denn sprechen wolle, doch
während der insgesamt mindestens vier Jahre weigerte
er sich beharrlich, darauf einzugehen und bestand darauf,
daß ich das Vortragsthema bestimmen solle. Bei dieser
letzten Gelegenheit bat ich ihn nun, über okkulte Ereignisse
in der neueren Geschichte zu sprechen. Er war
einverstanden und sprach über das Moltke-Schicksal,
von dem ich damals noch nichts wußte. Nicht einmal
vom gewöhnlichen historischen Aspekt aus.
Sein Vortrag machte einen tiefen Eindruck auf mich;
ich wollte mehr wissen; aber er starb hinweg. Bald nach
seinem Tod war ich auf einer Konferenz in Arlesheim.
Während einer Kaffeepause blickte ich mich um und
überlegte, wen ich ansprechen sollte. Ich entschied
mich für Jürgen von Grone, der über meine Frage nach
Moltke erstaunt war und mir sagte, er sei (neben Emil
Bock) einer der wenigen Menschen, welche im Besitz
der Post-mortem-Briefe waren. Von Grone, der mit
Stein persönlich gut bekannt gewesen war, hatte den
Der Europäer Jg. 3 / Nr. 9/10 / Juli/August 1999
Ein problematisches Buch ...
W. J. Stein (1891–1957) Jürgen von Grone (1887–1978)
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Eindruck, daß ich durch Stein zu
ihm geführt worden war. Er forderte
mich dazu auf, ihn zur Osterzeit
(1958) in Stuttgart zu besuchen, wo
er mir Teile der Moltke-Aufzeichnungen
vorzulesen versprach. Das
war ein tief bewegendes Erlebnis,
doch von Grone erklärte mir, daß
ich auf diese Weise die Hälfte der
Sache erfahren könne, daß ich aber
die andere Hälfte auch noch erfahren
würde, falls es ihm gelänge, einen
Besuch bei Astrid Gräfin Bethusy
in Eisenschmitt bei Koblenz für
mich zu arrangieren.
Und so kam es, daß ich im September 1958 zwei Tage
bei Astrid Gräfin Bethusy verbringen sollte. Der erste
Eindruck bei dieser Begegnung war außerordentlich tief.
Rosemarie, ihre Tochter, holte mich am Bahnhof ab, und
ich wurde von der Gräfin, einer alten Dame, die ganz in
schwarz gekleidet war und kaum ein Wort sprach, begrüßt.
Ich aß mit der Familie zu Mittag, und dann sagte
mir die Gräfin mit leiser Stimme, ich solle um fünf Uhr
nachmittags auf ihr Zimmer heraufkommen.
Während die alte Dame nun zu reden begann, verwandelte
sie sich buchstäblich in ein Wesen aus Licht
und Wärme. Sie sprach mit kräftiger Stimme und begann
gewisse Dinge aus den Briefen vorzulesen, die mir
von Grone nicht mitgeteilt hatte. Es schloß sich ein Gespräch
an, während die Sonne langsam unterging und
der Raum von einem goldenen Licht durchflutet wurde.
Aus diesem Gespräch sind mir die folgenden Punkte gegenwärtig
2:
• Sie betonte, daß in der Odilienströmung auch dunkle
Kräfte wirkten.
• Die Klosterburg Odilies repräsentierte ein Licht nach
Osten.
• Schwarz-magische Kräfte, die in den Mysterienzentren
Italiens ausgebildet worden waren, arbeiteten
gegen Nikolaus [= Papst im 9. Jh., † 867].
• Wilhelm II. wirkte in der Nikolauszeit gegen den
Christusimpuls und verfolgte viele Menschen.
• Die Gefahr am Ende des Jahrhunderts besteht in
schwarzen «Rabenkräften» (die unter der Erde bleiben
sollten), aber versuchen werden, sich über die
Häupter der Menschen zu erheben und ein ahrimanisches
Netz zu weben, um den Menschen dadurch von
der geistigen Welt abzuschneiden. Im Jahre 1924 waren
sie bereits bis zum menschlichen Zwerchfell gedrungen.
[Siehe den Kasten auf S. 4]
• Umi3 konnte sich nicht reinkarnieren wegen seines
Mysterienverrates. Rudolf Steiner gab der Gräfin Meditationen,
um dieser Individualität, die ihr geistig
erschienen war, zu helfen.
• Michaels Altar in der Astralwelt ist ein strahlendes
Licht.
• Rasputin hat eine schrekliche Gier, sich wiederzuverkörpern,
und er wird ahrimanische Kräfte mit sich
bringen und andere nicht-irdische Wesen, und er
wird zerstörerisch wirken.
• Oft sind die kleinen Dinge spirituell wichtiger als die
scheinbar wichtigen äußeren Ereignisse.
• Ich traf die Gräfin, als sie 76 Jahre alt war. Sie starb im
Jahre 1961, im Alter von 79 Jahren4. Astrid wurde
von allem, was religiöser Natur war, stark angezogen
und hatte schon als Kind und junge Frau viele geistigen
Erlebnisse. Rudolf Steiner wies auf ihre Verbindung
mit ihrer Mutter hin und nannte beide «Zwillinge
». Die Gräfin heiratete einen älteren Grafen
Bethusy. Sie hatten vier Kinder.
• Sie besuchte die Aufführungen der Mysteriendramen
und hörte viele Vorträge Rudolf Steiners in Berlin.
• Rudolf Steiner gab ihr eine Reihe von Meditationen,
als sie 23 und 24 Jahre alt war.5
• Sie bestätigte den Zusammenhang ihrer Mutter mit
Odilie. – Ich hatte den Eindruck, daß sie immer noch
in geistiger Verbindung mit ihren Eltern stand.
TM: Du hast eine Astrid Bethusy gegebene, in ihrem
Wortlaut unbekannte Meditation Rudolf Steiners für die rätselvolle
Individualität des Umi erwähnt. Daneben existieren
einige bekannte Wahrspruchworte für sie wie auch für ihre
Mutter. Sie wurden von R. Steiner gewöhnlich auf die Rückseite
von Photographien geschrieben, wie er das damals bei
vielen nahe Schülern tat.
Der Europäer Jg. 3 / Nr. 9/10 / Juli/August 1999
Astrid Bethusy, im Alter Astrid Bethusy, Jugendbild
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RQ: Als ich die Gräfin im September
1958 fragte, welchen der für
sie bestimmten Sprüche R. Steiners
sie als den bedeutendsten betrachtete,
sagte sie «dieser hier»:
Laß uns nur recht, o Weltengeist,
durchdrungen sein
von geist-ergreifender Gesinnung,
damit wir nicht verfehlen,
das, was sein kann
zum Heil der Erde
und zu der Erde Fortschritt,
Lucifer und Ahriman
im rechten Sinne abzutrotzen!6
TM: Gibt es eine spezifisch amerikanische Art, Anthroposophie
aufzunehmen, und wie kommen die Menschen hier
zu ihr?
RQ: Anthroposophie tendiert in den USA dazu, etwas
hölzern zu werden. Von den meisten Menschen wird sie
entweder durch die Waldorfpädagogik für ihre Kinder
oder über die Künste, vor allem die Eurythmie, gefunden.
TM: Was für Persönlichkeiten waren beim Aufbau der
anthroposophischen Bewegung in den USA in Deinen Augen
von Bedeutung?
RQ: Zu den führenden Persönlichkeiten hier gehörten
Mr. Greene, der Gesangslehrer war und der in einem
der Räume der Carnegie Hall die St. Markus-Gruppe
versammelte; Charlotte Parker; Henry Barnes und Paul
Allen – um nur einige wenige zu nennen.
TM: Was sind Deine und Deiner Frau gegenwärtige
Aktivitäten in Boulder?
RQ: Wir sind vorwiegend in der Boulder Anthroposophical
Institution tätig, welche dreimal pro Woche Kurse
hält, während die Arbeit mit den Klassentexten monatlich
stattfindet. Es gibt drei Waldorfschulen hier.
1 Deutsche Ausgabe: Der Speer des Schicksals, Zug 1974.
– Vgl. auch die Richtigstellungen in Light for the new Millennium
– Rudolf Steiners association with Helmuth and Eliza von
Moltke, Rudolf Steiner Press, London, 1998, Introduction.
2 Die meisten der folgenden Punkte beziehen sich auf Porstmortem-
Mitteilungen in: Helmuth von Moltke – Dokumente zu
seinem Leben und Wirken, Basel 1993, Bd. 2.
3 «Umi» ist eine spirituell bedeutende Individualität, «ein
Geist, der uns durch Jahrtausende verbunden war». Post-mortem-
Mitteilung vom 1. März 1918, a. a. O.
4 Astrid Bethusy starb am 29. Oktober 1961. Siehe dazu den
Nachruf von Jürgen von Grone in: Mitteilungen aus der anthroposophischen
Arbeit in Deutschland, Ostern 1962.
5 Wahrspruchworte, GA 40, 8. Aufl. 1998, S. 249, 255, 259, 273.
6 A. a. O., S. 132. Spruch vom 13. Juni 1915, mit der Angabe
«Elberfeld», ohne namentliche Nennung Astrid Bethusys.
René Querido leitet zwischen dem 13. und dem 30. September
1999 eine Kunstreise nach Chartres und Florenz.
Auskunft:
Anthroposophical Seminars and Waldorf Travel Service,
9200 Fair Oaks Blvd., Fair Oaks, CA 95628, USA.
Fax: (916) 961-6839, CST 2006065-10.
Der Europäer Jg. 3 / Nr. 9/10 / Juli/August 1999
Einige Publikationen von René Querido,
beziehbar durch Rudolf Steiner College Press,
9200 Fair Oaks Blvd., CA 95628 California,
USA. Fax: 001/ 916 916-3032