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Jacob Boveri stellt in seiner Darstellung die Stigmatisierten Anna Katharina Emmerick, Therese Neumann und Judith von Halle ohne Differenzierung nebeneinander und behauptet, ihre „Visionen“ seien „leibgebunden“und widersprächen der Geisteswissenschaft Rudolf Steines. Er kommt zu dem Schluss, dass „unser Augenmerk heute [Persönlichkeiten] gelten [sollte][...],die in der Gegenwart innerhalb unserer anthroposophischen Gemeinschaft wirken – Persönlichkeiten, die einen Zugang zur geistigen Welt haben und dadurch Ereignisse wie das Mysterium von Golgatha in Visionen erleben können, welche jedoch versinnlicht leibgebundenen Charakter haben, anstatt rein übersinnlich und leibfrei zu verlaufen. Die Anthroposophie braucht wache, mutige Seelen, die bereit sind, alles da-für zu tun, dass das wahre Christentum gehütet und in einer lebendig- übersinnlichen Art erfasst und gelehrt wird.“ Damit repetiert er im wesentlichen Aussagen und Argumentationslinien Sergej Prokofieffs, imitiert seinen Stil, Judith von Halle in seiner Schlussfolgerung zu meinen, aber nicht zu nennen (hier hätte ich mir einen Eingriff der Redaktion gewünscht*) und aus dem Zusammenhang gerissene Rudolf-Steiner-Zitate als„Beweis“ für seine Argumentationen anzuführen.Nun sind in den vergangenen Monaten zwei Bücher erschienen,die Jacob Boveri beide nicht nennt: Anna Katharina Emmerick. Eine Rehabilitation (Dornach 2013)von Judith von Halle und: Phantomleib, Stigmatisation und Geistesforschung, Judith von Halle und die anthroposophische Christologie (Dornach 2013) von Helmut Kiene. In diesen beiden Büchern wird u. a. ausführlich beschrieben: 1. dass Anna Katharina Emmerick ihre Geistesschau in ihren Worten beschreibt, die naturgemäss(!) noch nicht die Begriffe der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners beinhalten und 2. dass Judith von Halle eben gerade keine „leibgebundenen, versinnlichten Visionen“ hat, sondern dass das Besondere ihrer Forschung darin besteht, dass sie ihre mitgebrachten Möglichkeiten der Geistesschau mit den auf dem anthroposophischen Schulungswege erworbenen Fähigkeiten und Begrifflichkeiten einer strengen Prüfung und kritischen Analyse unterzieht und mithilfe der Anthroposophie ihre Geistesschau erst deuten kann. Diese zweite Stufe ist für sie die wichtigere und auch in gewissem Sinne die entscheidende. Denn es geht für den Menschen im Bewusstseinszeitalter darum zu verstehen und denkend nachzuvollziehen – und selbstverständlich nicht darum zu glauben. Judith von Halle schreibt im Geleitwort zu ihren Büchern: „Der geistige Mensch kann Intuitionen von diesen kosmischen Tatsachen haben,wenn sich sein Ich jenseits der Schwelle gänzlich aus dem Astralischen herauslöst, sodass er – das heisst sein Ich – in die Objektivität hineinkommt. [...] Es ist eine schwierige und daher höchst verantwortungsvolle Aufgabe für den Menschen, diese objektiven Tatsachen,welche sein Ich jenseits der Schwelle hat aufnehmenkönnen, nun auch in eine wirkliche Erkenntnis zu verwandeln,die ebenso wahrheitsgemäss ist, wie die reine Wahrnehmung zunächst als gegeben vorhanden ist .Immer wieder ist zu überprüfen, ob die geistige Wahrnehmung auch tatsächlich demjenigen Begriff entspricht,dem man sie zuordnet. Erst wenn alle Ergebnisse dieser Prüfung standhalten, darf sich der Schüler der Geisteswissenschaft berechtigt fühlen, diese seine Ergebnisse als Geist-Erkenntnisse weiterzugeben. Viele Menschen haben heute geistige Wahrnehmungen [...],zum Beispiel auf der ätherischen oder astralischen Ebene.Doch bleiben diese Wahrnehmungen nutzlos oder sind nicht selten sogar Auslöser für eine grosse Verwirrung,wenn sie dem Menschen in ihrem wahrhaften Zusammenhang verhüllt bleiben. Jemand kann beispielsweise Wahrnehmungen von der ätherischen Welt haben,indem er in das Gebiet der Elementarwesen eintaucht.Doch können Aussagen über das Elementarreich nur Bestand haben, können nur dann wirklich objektiv sein, wenn sich der Mensch aus jener Ebene erhebt; da sbedeutet, wenn er nicht ausschliesslich die Erkenntnisebene der Elementarwesen teilt, sondern sich wie um eine Stufe heraufhebt zu einem Betrachtungsstandort,von dem aus er nicht nur von der Beschaffenheit der Elementarwelt berichten kann, sondern Erkenntnisse über die Elementarwelt haben kann. [...] Es ist eine Errungenschaft der Geisteswissenshaft Rudolf Steiners,dass es uns heute möglich ist, unsere Wahrnehmungen mittels eines geschulten, klaren Denkens in wirklichkeitsgetreue Erkenntnisse zu verwandeln. Alle diejenigen Aussagen, die in den folgenden Ausführungen nicht die sinnlichen Vorgänge der Zeitenwende zum Inhalt haben, entspringen der soeben geschilderten Erkenntnisquelle.Sie sind behutsam und mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit ausgesprochen und keinesfalls ‚daherspekuliert’.“(J. v. Halle, Der Abstieg in die Erdenschichtenauf dem anthroposophischen Schulungsweg,Dornach 2008, S. 11ff.)Ich habe mich immer gefragt, wie man behaupten kann,dass die Forschungen Judith von Halles leibgebunden seien, wenn sie z. B. den Abstieg des Christus in die Erdschichten beschreibt oder die komplexe Auferweckung des Lazarus, in der Wesensglieder von Johannes dem Täufer, Lazarus und Johannes Zebedäus beteiligt waren (wie sollte man das „sinnlich“ sehen?). Die strenge geisteswissenschaftliche Analyse im Schaffen Judith von Halles wird konsequent übersehen, weil man sich auf das vermeintlich „Spektakuläre“ stürzt: auf die Nahrungslosigkeit, die Stigmatisation und die Wahrnehmungen vergangener Ereignisse. Darum geht es aber letztendlich gar nicht. Es geht um die Erkenntnisse,die Judith von Halle sich mithilfe der anthroposophischen Geisteswissenschaft mühsam und ringend erarbeitetund uns daran teilhaben lässt, damit wir selbe rangeregt werden, mit diesen Fragen umzugehen. Dieses Teilhabenlassen ist entgegen anderer Behauptungen stets freilassend, denn niemand wird gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen.Alle Argumente im Aufsatz von Jacob Boveri fallen vordiesem Hintergrund in sich zusammen. Weder kann man Anna Katharina Emmerick und Therese Neumann vorwerfen, dass sie keine Anthroposophinnen gewese nseien noch kann man die beiden Stigmatisierten anführen,um eigentlich Judith von Halle zu kritisieren, da sie mit jenen aus den o. g. Gründen gar nicht vergleichba rist. Zur der angeblich von Rudolf Steiner so bezeichneten„Somnambulität“ von Anna Katharina Emmerick(von Sergej Prokofieff auf Judith von Halle übertragen,von Jacob Boveri aber nicht wiederholt) lässt sich sagen,dass dieser Vorwurf entkräftigt ist, wenn man –wie Judith von Halle es getan hat –, der handschriftlichen Original-Notiz dieser Aussage in der Nachlassverwaltung nachgeht und feststellt, dass Entscheidendes von Sergej Prokofieff weggelassen wurde: Die handschriftliche Notiz der mutmasslichen Rudolf-Steiner-Aussage lautet: Anna Katharina Emmerick sei „eine ausserordentlich gute Somnambule“ deren Gesichte,„unzweifelhaft ausserordentlich Richtiges“ enthielten (zit. n. J. v. Halle, Anna Katharina Emmerick, a. a. O,S. 24). Deutlich ist hier, dass das Wort „somnambul“völlig wertneutral gemeint ist, dass also „somnambul“in einem Kontext bei Rudolf Steiner eben nicht das gleiche bedeutet wie in einem anderen Kontext. So oft wird darauf hingewiesen, Rudolf Steiners Aussagen situativ zu lesen, auf den Wechsel seiner Bedeutungsnuancen zu achten und die Lebendigkeit seines Denkens nachzuvollziehen – dann sollte man es auch in diesem Falle tun !In den beiden o. g. Büchern sind alle relevanten Fragen für die von Jacob Boveri genannten Themen ausführlich behandelt; sie scheinen aber nicht von ihm gelesen worden zu sein. Ich würde mir wünschen, wir würden innerhalb der anthroposophischen Gemeinschaft mehr unbefangene, vorurteilslose Wahrnehmung und Diskursfähigkeit untereinander üben. Hildegard Backhaus Vink, Arlesheim
* Anmerkung der Redaktion:Jacob Boveri hat in seinem Beitrag Judith von Halle namentlicherwähnt (auf Seite 2) und das Zusammentreffender Sachfrage (z.B: Auf welche Art und Weise kommt einHellsichtiger zu seinen Erkenntnissen?) mit der Tatsache,dass es namentlich bestimmte Vertreter der Sachfragegibt, nicht verschwiegen. Dies ist aus unserer Sicht vollständigzureichend für die Orientierung des Lesers. Dahersahen wir diesbezüglich keinen Grund für einen «redaktionellenEingriff». - Dass Jacob Boveri in seinem Statementam Ende des Beitrags seine sachliche-inhaltlicheÜberzeugung äussert ohne persönlich zu werden, haltenwir auf dem Hintergrund unserer o.g. Überlegung, also derzureichenden Orientierung des Lesers, für eine möglicheund angemessene Form der Darstellung. Seine Bemühungum eine sachbezogene Darstellung ist unabhängig vonseiner Stellungnahme dazu und unabhängig von seinemUrteil in der Sachfrage deutlich wahrnehmbar. Deutlicherübrigens als in manchen Beiträgen zum Thema, die wirbereits erhalten, gerade deswegen jedoch nicht veröffentlichthaben. Auf eine Personalisierung der Sachfragen umgeisteswissenschaftliche Urteilsbildung werden wir unsauch künftig nicht einlassen. Uns interessiert jedoch derfolgende Zusammenhang. Was ist Geisteswissenschaft, was nicht?Grundsätzlich darf das Auftreten neuartiger Forschungsrichtungenbegrüsst werden. Judith von Halle, aber auchandere Persönlichkeiten, haben dazu beigetragen, die unabhängigvon ihrer Person wesentliche Frage ‹Was istGeisteswissenschaft, was nicht? – Wie kommt ein Hellsichtigerzu seinen Erkenntnissen› in aktualisierter Formanzuschauen. Nun ist es keineswegs verwunderlich, wennbei neuartigen Forschungsrichtungen, die sich als Anthroposophieauffassen und ausgeben, bei Dritten prüfendeFragen auftreten, ja, dieses Prüfen sollte unseres Erachtensso intensiv wie nur möglich erfolgen. Dazu dient insbesonderedie Formulierung relevanter Forschungsfragen,z.B. in erkenntniswissenschaftlicher Hinsicht: Ist in einerneuartigen Forschungsrichtung Irrtum möglich und wennja, wie? Wie wird bei der Überprüfung eines Zusammenhangsdas Verhältnis von nicht-sinnlicher Wahrnehmung,Begriff und Wahrheitskriterium gesehen, was wird untereiner spezifischen Überprüfungstechnik verstanden?Beiträge, welche die angedeuteten Forschungsfragestellungenzur Erkenntnisweise (weniger zu deren Produkten),insbesondere in erkenntniswissenschaftlicher Hinsichtkonkretisieren oder ausarbeiten, wären unseres Erachtenswesentlich. In den Veröffentlichungen von Judith von Halleist, soweit wir dies recherchieren konnten, ihre Erkenntnisart,bzw. ihre Überprüfungstechnik in Hinweisen umschrieben,jedoch nicht mit entsprechendem Erfahrungsmaterialund einer begrifflichen Durchdringung versehen.Eine Darstellung zur Möglichkeit des Irrtums scheint vollständigzu fehlen. Auch der aktuellen Publikation dazuvon Helmut Kiene, Phantomleib, Stigmatisation und Geistesforschung(Dornach 2013) stand ein derartiges Erfahrungsmaterial,bzw. eine Darstellung der Überprüfungstechniknicht zur Verfügung. In der Erarbeitung der angedeutetenerkenntniswissenschaftlichen Forschungsfragenzur jeweiligen Erkenntnisart jedoch könnten sich unterschiedlichsteAuffassungen beteiligen.Roland Tüscher, Kirsten Juel