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vrijdag 14 augustus 2015

E I N G EW E I H T E R , L E B E M A N N , P R I E S T E R : Rudolf Steiner integral Von Felix Hau

E I N G EW E I H T E R , L E B E M A N N , P R I E S T E R :
Rudolf Steiner integral
Von Felix Hau

Ein zentrales Erlebnis von "Erleuchtung" beschreibt der 19-jährige Rudolf
Steiner in einem Brief an einen Freund. info3-Redakteur Felix Hau
entwickelt aus diesem Angelpunkt eine überraschende Arbeitshypothese zu
der bis heute ungeklärten Frage von Steiners "Einweihung" und kontrovers
diskutierten Aspekten seiner Werk-Entwicklung.
Viel ist schon geschrieben worden über die Biographie Rudolf Steiners. Verschiedene
Ansätze haben versucht, die Widersprüche, die auf den ersten und auch noch auf
den zweiten Blick in dieser Biographie zu Tage treten, aufzulösen. Die beiden
gängigsten Theorien gehen davon aus, dass Steiner vor der Jahrhundertwende - die
in seiner äußerlichen Biographie einen deutlichen Änderungspunkt markiert -
entweder ein Saulus gewesen ist, der dann durch eine Christusbegegnung zum
Paulus wurde, oder dass er auch schon vor der Jahrhundertwende ein Paulus war,
der sich lediglich aus bestimmten Gründen bewusst bis zu seinem vierzigsten
Lebensjahr in das Gewand eines Saulus kleidete.
Ich halte sowohl die eine wie auch die andere Vorstellung für absurd und ihre
Annahmen für viel zu weit hergeholt. Ich glaube nicht, dass man sich die Sache
nicht anders erklären kann; allein: man will nicht. Und man will vor allem deshalb
nicht, weil dann probeweise eine einzige Annahme gemacht werden müsste, die
bislang nicht gemacht wurde und die offenkundig so schwer fällt und so absurd
erscheint wie sonst gar nichts. Diese Annahme lautet in ihrer schlichten
"Anmaßung": Rudolf Steiners Einweihung hat mit dem Christentum überhaupt
nichts zu tun.
Als Zweites müsste man, um die hier dargestellte Arbeitshypothese ernsthaft in
Erwägung zu ziehen, noch etwas aufgeben; und zwar die Ansicht, Eingeweihte
würden sich irgendwie "ordnungsgemäß" verhalten oder zumindest "eigentlich"
verhalten wollen; man könne gar am Verhalten erkennen, ob jemand eingeweiht sei
oder nicht. Es wäre ein interessantes eigenes Thema, einmal dieser merkwürdigen
Vorstellung nachzugehen, die offenbar mit einer Art Automatismus ausgerechnet im
Einweihungsfall rechnet, der zu einem vorhersehbaren und - sagen wir es ruhig,
wie's ist - in seiner anti-individuellen, trostlosen Spießigkeit wohl dann kaum zu
überbietenden Lebenswandel führt.
Aber gehen wir in medias res:
Ein Märchen
In der Neuausgabe desjenigen Bandes der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe, der den
Briefwechsel zwischen Rudolf Steiner und Marie von Sivers enthält (GA 262), ist ein
Text des französischen Schriftstellers und "Okkultismus-Experten" Edouard Schuré
eingefügt worden. Schuré hatte seinerzeit diesen Text seiner in Frankreich
veröffentlichten Übersetzung des Steiner-Buches Das Christentum als mystische
Tatsache beigestellt, um dem Lesepublikum etwas über den Autor des Werkes
mitzuteilen. Der Schuré'schen Nachzeichnung der Biographie und Entwicklung
Steiners zum Eingeweihten, die Gegenstand dieses Textes ist, liegt einerseits eine
(in GA 262 als Documents de Barr schon immer enthaltene) schriftliche
Aufzeichnung von Steiner selbst zu Grunde, andererseits Informationen, die
entweder Steiner gegenüber Schuré anlässlich einiger weniger Treffen mündlich
geäußert haben muss oder die Marie von Sivers, die auch den Kontakt hergestellt
hatte, Schuré zur Kenntnis brachte.
"Mit neunzehn Jahren begegnete der junge Neophyte seinem Führer - dem Meister -
; eine Begegnung, die er seit langem vorausgeahnt hatte. (…) Rudolf Steiners
Meister war einer von diesen mächtigen Menschen, die der Welt unbekannt unter
der Maske irgendeines bürgerlichen Berufes leben, um eine Mission zu erfüllen, die
nur die Gleichgestellten in der Bruderschaft der "Meister des Verzichts" kennen. Sie
üben keine sichtbare Wirkung aus auf die menschlichen Ereignisse. Das Inkognito ist
die Bedingung ihrer Wirksamkeit, die dadurch eine umso größere Kraft gewinnt.
Denn sie erwecken, bereiten vor und leiten solche, die vor aller Augen handeln. Bei
Rudolf Steiner war es für den Meister nicht schwer, die erste, spontane Einweihung
seines Schülers zu vervollständigen. Er brauchte ihm eigentlich nur zu zeigen, wie
er sich seiner eigenen Natur zu bedienen habe, um ihm alles Erforderliche an die
Hand zu geben. In lichtvoller Weise zeigte er ihm die Verbindung zwischen den
äußeren und den geheimen Wissenschaften, den Religionen und den geistigen
Kräften, welche sich gegenwärtig die Führung der Menschheit streitig machen, sowie
das Alter der okkulten Tradition, welche die Fäden der Geschichte in der Hand hält,
sie verknüpft, auftrennt und im Laufe der Jahrhunderte wieder zusammenknüpft.
Rasch ließ er ihn durch die verschiedenen Etappen der inneren Disziplin
hindurchgehen, um das bewusste und vernunftgetragene Hellsehen zu erreichen. In
wenigen Monaten war der Schüler durch mündlichen Unterricht mit der
unvergleichlichen Tiefe und Schönheit der esoterischen Zusammenschau bekannt
geworden. (…) ‚Wenn du den Feind bekämpfen willst, musst du ihn zuerst
verstehen. Den Drachen kannst du nur besiegen, wenn du seine Haut anziehst. Den
Stier muss man bei den Hörnern nehmen. Im größten Missgeschick wirst du deine
Waffen und deine Kampfgenossen finden. Ich habe dir gezeigt, wer du bist; jetzt
gehe - und bleibe du selbst!' - Rudolf Steiner kannte die Sprache der Meister
genügend, um den schweren Weg vorauszuahnen, welchen dieser Befehl ihm
auferlegte; er begriff jedoch auch, dass es das einzige Mittel war, um zum Ziele zu
gelangen. Er gehorchte und machte sich auf den Weg."
Soweit Edouard Schurés Erzählung der Meisterbegegnung Rudolf Steiners - von der
ich allerdings kein Wort glaube.
Schuré kann die dargestellten Details, die über die schriftlichen Ausführungen in den
bekannten und für Schuré verfassten Documents de Barr hinausgehen, eigentlich,
wie schon erwähnt, nur mündlich von Steiner selbst oder von Marie von Sivers
erfahren haben; oder er hat sie zusammenphantasiert, was ich Schuré einerseits
aber nicht zutraue und was andererseits sehr unwahrscheinlich ist, denn der Text
erschien zu Steiners Lebzeiten und Steiner hat ihm nie widersprochen.
Ich glaube aber nicht nur die Details nicht - ich glaube die gesamte Geschichte
nicht. Insbesondere glaube ich nicht, dass Rudolf Steiner jemals jenem "Meister"
begegnet ist, von dem er selbst laut den Documents de Barr lediglich kurz, Schuré
in seiner Einführung dann schon wesentlich umfassender schreibt. Und zwar glaube
ich diese Sache vor allem aus zwei Gründen nicht:
1. Es gibt - mit der einzigen Ausnahme der Documents de Barr - keine einzige
Erwähnung dieser Meisterbegegnung durch Steiner selbst (auch in seiner
Autobiographie nicht) und auch sonst nichts, das sie belegen oder aufklären würde.
2. Diese Begebenheit passt in keiner Weise - oder zumindest nur unter
ausgesprochen fragwürdigen Annahmen; dass es solche gibt und dass sie sogar der
üblichen Interpretation zu Grunde liegen, ist mir durchaus bekannt - weder in den
biographischen Rahmen noch in die Ideenentwicklung Rudolf Steiners. Auf diese
angebliche und bereits explizit ins "Esoterische" führende Meisterbegegnung nach
Schuré'scher Beschreibung folgte in Steiners Biographie de facto und unmittelbar
eine zwanzigjährige Fortführung und Intensivierung seines Lebenswandels als
"junger Wilder" und außerdem eine Fortführung und Intensivierung seiner
Ideengestaltung - ebenfalls als "junger Wilder", der er zu jener Zeit (und eben auch
noch lange darüber hinaus) in mehrerlei Hinsicht - und dankenswerterweise, im
Übrigen - war.
Jene "Meister", die Rudolf Steiner ansonsten erwähnt, haben meiner Ansicht nach
mit der hier verhandelten Angelegenheit nichts zu tun, außer, dass sie auf die
kontextuelle Herkunft auch jener "Meister-Idee", die Schuré ausführt, aus der
theosophischen Tradition verweisen. Steiner hat diese Tradition zunächst mitsamt
der enthaltenen Persönlichkeiten übernommen, später dann - zum Beispiel im
Hinblick auf Christian Rosenkreutz -, wie alles andere auch, sie fortführend
individuell gestaltet.
Tatsächlich: Einweihung mit 19
Was mich an dieser Geschichte aber dennoch aufmerken ließ, war die relativ präzise
Zeitangabe Schurés: "Mit neunzehn Jahren begegnete der junge Neophyte seinem
Führer …". Es gibt jenen Brief Steiners an seinen Freund Josef Köck, in dem er von
einem ihn stark bewegenden, revolutionären Erlebnis berichtet, dessen er eines
Nachts teilhaftig geworden ist - ein Erlebnis, das meiner schon länger bestehenden
Ansicht nach das Einweihungserlebnis Steiners gewesen ist. Ich schaute noch
einmal nach - und tatsächlich: Diesen Brief hat Steiner mit 19 Jahren geschrieben,
was mich nun noch mehr in der Vermutung bestärkt, dass Steiner Schuré
gegenüber schlicht und ergreifend ein tatsächlich stattgehabtes Ereignis in die frei
erfundene, nette Geschichte von der Meisterbegegnung kleidete.
Die Kernpassage des Briefes - der eine oder die andere wird sie kennen - lautet:
"Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief.
Ich hatte mich bis halb ein Uhr Mitternacht mit einzelnen philosophischen Problemen
beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war
voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ‚Uns allen
wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in
unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst
zurückzuziehen, und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns
anzuschauen.' - Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz
klar an mir entdeckt zu haben geahnt habe ich es ja schon längst -; die ganze
idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir;
was ist eine schlaflose Nacht gegen einen solchen Fund!"
Eines der wesentlichen Elemente liegt hier in dem Hinweis auf die "Modifikation" der
idealistischen Philosophie. Der 19-jährige Steiner hat also an diesem Punkt seines
Lebens etwas erlebt, das seine Ansichten - und das waren, wie er hier selbst
bemerkt, vor allem solche, die um die Ideen der deutschen "Ich-Philosophen"
kreisten - modifizierte, da es die Gestalt der Ideen modifizierte, mit denen er sich
beschäftigt hat. Wenn man sich anschaut, was da wohl - soweit der Brief Auskunft
gibt - Erlebnisinhalt gewesen sein mag, dann geht es offenbar um das Verhältnis
zwischen "Ewigem" und "in Zeit und Raum Ausgedehntem" in Bezug auf "das Ich".
Kommt uns das nicht eigentlich - außer natürlich als explizites Steiner'sches
Dauerthema - auch aus "anderen Zusammenhängen" irgendwie bekannt vor?
An dieser Stelle eine ganz gewagte Idee: Könnte es nicht sein, dass Steiner dieses
Erlebnis und kein anderes später das "Gestandenhaben vor dem Mysterium von
Golgatha" (so sein eigener Ausdruck in seiner Autobiographie) nannte und als
dasjenige Erlebnis angab, auf das es bei seiner Seelenentwicklung ankam? Soweit
ich weiß, macht er zu diesem "Gestandenhaben" nirgends eine eindeutige
Zeitangabe, auch, wenn er es in seinen autobiographischen Erinnerungen - und
allein schon im Ausdruck - in einen christlichen und das heißt: "nachjahrhundertwendlichen"
Kontext stellt. Diese Frage ist übrigens vollkommen
unabhängig von dem Umstand stellbar, dass Sinn und Zweck des Christentums -
dessen "wahre Gestalt" in Steiners Worten - ihm tatsächlich erst später aufging.
In seinem Lebensgang schreibt er ja außerdem interessanterweise mit Blick auf
seine "wilde" Zeit vor Ende des Jahrhunderts nicht etwa, dass er in jener Zeit (oder
davor) irgendwelche Auffassungen hatte, die er dann zu Gunsten anderer
Auffassungen aufgegeben hat, sondern das gerade Gegenteil: dass er sich seine
Geist-Anschauung damals in inneren Stürmen retten musste - und ihm dies auch
gelang.
Lebenswandel ist das eine ...
Gänzlich überzeugt bin ich übrigens davon, dass Steiners Ansichten auch vor der
Jahrhundertwende in oft krassem Gegensatz zu denjenigen seiner damaligen
Literaten-, Philosophen- und Künstler-Kumpanei standen. Das lag aber nicht etwa
daran, dass er "schon damals" Engelhierarchien, zwei Jesusknaben, Ätherleiber und
soratische Mächte als Anschauungen in sich trug - meiner Ansicht nach trug er
solche Anschauungen zu keinem Zeitpunkt in sich, sondern drückte dasjenige, was
er auch damals schon an Ideen in sich trug, einerseits lediglich später auf diese
bestimmte Art aus und fand andererseits neue Gebiete (vor allem dasjenige der
christlichen Esoterik), die er auf der Grundlage seiner Auffassungen dann
bearbeitete -, sondern schlicht daran, dass er weiter dachte, als die meisten
anderen, dass er in den "Dingen" wirksamen, "verkörperten" Geist "sah" und "im
Ich" den Zugang zur Ewigkeit gefunden hatte, aus der, schöpferisch, jederzeit die
gesamte Welt fließt.
All das hat aber nun gerade überhaupt nichts mit seinem Lebenswandel zu tun, wie
man unter dieser Voraussetzung unschwer erkennen kann. Und zwar nicht nur bei
Steiner nicht, sondern überhaupt niemals und nirgendwo, weshalb es so ein
nachgerade absurdes Theater ist, was hinsichtlich eben jenes Lebenswandels zwar
längst nicht nur von anthroposophischer Seite (sondern von nahezu allen
spirituellen Suchern), aber von dieser in besonders merkwürdiger und typisierender
Weise veranstaltet wird. Meint man denn, man könne sich in die geistige Welt
hineinessen oder ins Nirwana hineinwollweben?
Die Frage, ab wann Steiner ein "echter Eingeweihter" war (und darüber hinaus
diejenige, woran man überhaupt erkennen kann, dass jemand ein Eingeweihter ist),
wird ja eben vor allem auch an solchen Äußerlichkeiten festgemacht, woraus dann
regelmäßig der größte Nonsens entsteht, weil "man" ja eigentlich der Ansicht ist,
Steiner war "schon immer" Eingeweihter, andererseits aber weiß, dass er erst nach
der Jahrhundertwende "den Christus gebracht", kein Fleisch mehr gegessen, kaum
noch geschlafen, keinen Alkohol mehr getrunken und sich keinen neuen Anzug mehr
gekauft hat. Und nun meint man, irgendwie "esoterisch" erklären zu müssen,
warum er vor der Jahrhundertwende keinen "Christus gebracht", Fleisch gegessen
und Alkohol - viel Alkohol - getrunken hat, obwohl er doch da bereits ein
Eingeweihter gewesen ist. Das muss man aber nicht; es gibt dafür überhaupt keinen
in der Sache liegenden Anlass und meine Antwort darauf ist deshalb - und zwar
ganz absichtsvoll polemisch: Er hat vor der Jahrhundertwende keinen "Christus
gebracht", er hat Fleisch gegessen und Alkohol getrunken, weil er da bereits ein
Eingeweihter gewesen ist.
... Auffassungen sind das andere ...
Ich bin im Übrigen nicht der Ansicht - und war es nie -, dass Steiner bei seiner
Verbindung mit der Theosophie seine Ideen aufgegeben, wesentlich modifiziert oder
erst danach die ihn kennzeichnende Auffassung entwickelt hat; ganz im Gegenteil.
Ich bin aber sehr wohl der Ansicht - und dieser Eindruck hat sich durch die
"Zeugenberichte" in dem soeben im Pforte-Verlag erschienenen Buch Der andere
Rudolf Steiner, das in der nächsten Ausgabe von info3 besprochen werden wird,
noch einmal verstärkt -, dass sein Tätigwerden im Rahmen der theosophischen
Gesellschaft anfänglich zu einem Großteil eine Art Verzweiflungstat war,
beziehungsweise, um es freundlicher auszudrücken: Steiner hatte eine sich ihm
bietende Gelegenheit, endlich zu einem regelmäßigen Einkommen zu gelangen,
beim Schopfe gepackt - als "Zufallsanbeter", der er eigenen Angaben zufolge zu
jener Zeit gewesen ist. Dass die Tätigkeit sich so gestaltete, dass sie außerdem
noch seinen Neigungen (nach eigenen Angaben: einem bis zur Erschöpfung Tätigsein-
wollen) entgegenkam und ein Feld bot, auf dem er in aller Seelenruhe seine
ureigenen Auffassungen zu Anschauungen entwickeln und ausarbeiten konnte -
lediglich um den Preis, sie in eine bestimmte Ausdrucksform zu gießen -, kann man
im Rückblick sogar einen verdammt glücklichen "Zufall" nennen; zumindest für
Steiner selbst.
... und anschaulicher Ausdruck der Auffassungen ist ein Drittes - 10 Thesen
1. Dasjenige, was man als Steiners Einweihung bezeichnen kann, geschah mit 19
Jahren.
2. Diese Einweihung geschah "von selbst", ohne irgendeine "Meisterbegegnung".
3. Seine grundlegenden Ansichten sind lediglich an diesem Punkt seines Lebens
einmal modifiziert worden.
4. Diese Modifikation war dennoch keine wirkliche Änderung, sondern eine
unendliche Erweiterung und Klärung auch schon vorher bestehender Ansichten.
5. Steiners Einweihung hatte nichts - und zwar überhaupt nichts - mit dem
Christentum zu tun.
6. Steiners Lebenswandel steht in keinerlei Widerspruch zu seiner Einweihung,
weder vor noch nach der Jahrhundertwende. Insbesondere deutet seine "wilde Zeit"
nicht auf einen Saulus hin, der später dann zum Paulus geworden ist; und man
muss sie vor dem Hintergrund des Eingeweiht-Seins Steiners weder aus
irgendeinem Grund leugnen, noch "erklären".
7. Steiner hat auch nach der Jahrhundertwende seine Auffassungen beibehalten.
8. Er hat diese seine Auffassungen, ganz gemäß seiner Überzeugung von dem
Erkennen als Mitschöpfen der Welt, nicht nur bis zu seinem Lebensende
durchgetragen, sondern nach der Jahrhundertwende auch praktisch umgesetzt,
indem er sie lebte; er hat nicht nur die Ideenwelt seiner Auffassungen, sondern
auch seine Biographie ab einem bestimmten Zeitpunkt gestaltet - sowohl in
Richtung Zukunft als auch in Richtung Vergangenheit.
9. Die theosophische Zeit, die mit keinerlei Änderung seiner Auffassungen
verbunden ist, begann aus rein äußerlichen Gründen.
10. Steiner hat vor diesem - äußerlichen - Hintergrund nicht nur seine Ideen
anschaulich in religiöse Begriffe gekleidet und das Christentum als denjenigen
kulturellen Rahmen gewählt, in dem er, um seinem Publikum gerecht zu werden,
diese Anschauungen vortragen wollte, sondern auch begonnen, seine eigene
Biographie zu mystifizieren und sein Frühwerk bzw. seine Lebensphasen vor der
theosophischen Zeit entsprechend zu interpretieren. Daraus resultiert nicht nur die
Geschichte, die er Schuré vermutlich über seine Einweihung erzählt hat, sondern
auch die sattsam bekannten Änderungen und Zusätze, die er beispielsweise der
Philosophie der Freiheit bei deren Neuauflage einverleibt hat und noch einiges
anderes mehr (siehe oben; Mysterium von Golgatha), was es heute so schwer
macht, gegenüber Steiner und der Anthroposophie ein freies Verhältnis zu gewinnen
- oder ein solches gar öffentlich zu formulieren.
Die letzten Fragen
Ich habe - unter der Annahme oben dargestellter Arbeitshypothese - eigentlich nur
noch eine Frage, die sich verschiedentlich formulieren lässt: Inwieweit "kehrte"
Steiner gegen Ende seines Lebens tatsächlich zu der Nüchternheit der Philosophie
der Freiheit "zurück", wie Andrej Belyj das behauptet (während seine Anhänger sich
weiterhin mit dem "Schnuppern an Engelslilien" beschäftigten). Hat er diese
Nüchternheit überhaupt jemals - nicht im Ausdruck und vor Publikum, sondern
wirklich - verlassen? War er tatsächlich der Überzeugung, wie er einmal an Marie
von Sivers schrieb, dass seine Zeit die Theosophie trotz allem nötig habe oder ist
das bereits Ausdruck der oben genannten Mystifizierung?
Ist also Steiner selbst nach der Jahrhundertwende das erste tatsächliche "Opfer"
seiner Mystifizierungen geworden, indem er begann, die Ausdrucksformen, in die er
seine Weltsicht nun kleidete, mit den Inhalten dieser Weltsicht absolut zu
identifizieren - oder war er begeisterter Priester, der aus didaktischen Gründen die
Menschen, die sich ihm zuwandten, im Sinne der kulturellen Identität, die ihnen nun
einmal mehrheitlich eignete (und immer noch eignet), sanft und ohne sie einem
radikalen Selbstzweifel aussetzen zu wollen, auf Pfade führte, auf denen sie ganz
allmählich diese lediglich gegebene Identität zurücklassen und einen Hauch von
Freiheit atmen konnten? - Ich meine: die Behauptung einer individuell erfahrbaren
"Wiederkunft Christi im Ätherischen" nebst kategorischer Ablehnung jeder
"Wiederkunft" im Physischen ist doch schon etwas ganz anderes als die Forderung
des Glaubens an eine unbelegte historische Tatsächlichkeit, auch wenn letztere
durch detaillierte Schilderungen noch so sehr ins Vorstellbare transferiert wird. Man
kann wirklich nicht behaupten, Steiner habe nicht wenigstens versucht, sein
Publikum "mitzunehmen".
Vor den Toren der Inquisition
Zu beiden Optionen, die als Antwort auf obige Frage im Raum stehen, gäbe es noch
viel zu fragen - und auch viel zu sagen. Davon sehe ich an dieser Stelle ab.
Was ich mit der Darlegung meiner Auffassung zur Biographie - und insbesondere
zur Einweihung - Rudolf Steiners beanspruche, ist keineswegs die Wahrheit, auch
wenn ich die dargelegte Art der Zusammenhänge bis auf Weiteres wesentlich
überzeugender finde, als alles andere, was bislang zu diesem Thema publiziert oder
mir auf anderen Wegen bekannt wurde. Ich habe diesen Text nicht umsonst als
Arbeitshypothese kenntlich gemacht. Was ich beanspruche, ist aber eine gewisse
Aufmerksamkeit. Diese wiederum nicht mir, sondern vor allem einem Umstand
gegenüber, der an meinem Versuch deutlich werden könnte, denn ich bezwecke
damit durchaus etwas, das den Inhalt selbst übersteigt. Mein Ansinnen ist es vor
allem, an einem Beispiel die Möglichkeit aufzuzeigen, mit dem eigenen Erkennen
auch vor dem Phänomen Rudolf Steiner nicht Halt machen zu müssen - und zwar
ohne dass einem von der "weisen Weltenlenkung" ein Ziegelstein auf den Kopf
geworfen wird, auch dann nicht, wenn sich durch weitere Prüfung herausstellen
sollte, dass man etwas übersehen, etwas falsch eingeschätzt, kurz: dass man geirrt
hat.
Außerdem will ich anfänglich zeigen, dass man bei einer auf Begreifen zielenden
Befassung mit Rudolf Steiner und der Anthroposophie weder auf intellektuelle
Redlichkeit verzichten, noch zwangsweise das zu diesem Zweck in weiten Kreisen
für unverzichtbar erachtete Christentum als solches an die Basis und ins Zentrum
des Steiner'schen Wirkens stellen muss, um nicht irgendeiner Wesentlichkeit
verlustig zu gehen; es geht auch sehr gut ohne, vielleicht sogar besser - bei Steiner
selbst ging es ja immerhin auch lange Zeit ganz ausgezeichnet.

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