Ein Anthroposoph bei Sai Baba
Meine erste Begegnung mit Sai Baba hatte ich 1998. Ein guter Arbeitskollege, der seit längerer Zeit jedes Jahr nach Asien reiste, um Ferien zu machen, erzählte mir, dass er dieses Mal auch Sai Baba besucht hatte. Nicht aus Neugier, wie er mir sagte, sondern weil ihn selbst zuvor etwas angesprochen hatte, in einem Gespräch zweier Menschen, das er mitgehört hatte. Das Thema war das Erlebnis von Liebe.Wer noch nie bei Sai Baba war, wird es vermutlich schwer haben, sich deutlich vorzustellen, wie sich eine Begegnung mit ihm konkret gestaltet. Obwohl vieles bei diesen Begegnungen für fast alle Besucher äußerlich sehr ähnlich abläuft, erlebt wohl jeder sehr Unterschiedliches. Mein Arbeitskollege hatte ein paar Tage auf dem Ashram-Gelände gewohnt, das in der Geburtsstadt Sai Babas, in Puttaparthi im Bundesstaat Andrapradesh, ungefähr 120 Kilometer nördlich der Millionenstadt Bangalore liegt. Ein kleines, inzwischen sehr modernisiertes und touristisch recht gut erschlossenes Städtchen, das an Einwohnern wohl weniger Menschen beherbergt als der Ashram, der auch in ruhigen Zeiten, vor allem an Wochenenden, gut 20 bis 30.000 Menschen aufnimmt, wobei die ganze Infrastruktur in Puttaparthi bis zu 50.000 Menschen beherbergen kann. Die größte Versammlung dort soll fast 300.000 (verkörperte) Menschen zu Sai Baba gezogen haben. Das war an seinem 70. Geburtstag, den er 1996 mit einem großen Kongress feierte. Mein Kollege hatte seinerzeit in diesem Ashram gewohnt und am so genannten Darshan teilgenommen, dem Sehen des Heiligen, oder - aus der Sicht des Heiligen - dem sich den Menschen zeigen. Als weitere Begegnungsformen gibt es noch das Sambarshan, das Sprechen mit dem Heiligen, und das Sparshan, das Berühren des Heiligen, der direkte Körperkontakt (häufig in Form des Berührens der Füße). Sai Baba zeigt sich in der Regel zweimal am Tag zum öffentlichen Darshan. Dabei geht er in einer relativ großen überdachten Vorhalle zum Tempel (Mandir) des Ashrams auf festgelegten Wegen durch die Reihen der Anwesenden zu seinem Besprechungszimmer. Auf seinem Weg dorthin segnet er, spricht kurz, lädt ein, nimmt Briefe entgegen und tut manches mehr.
Wenn man sich rechtzeitig vor Öffnung dieser Vorhalle im Wartebereich anstellt, erhält man per Los die Chance, relativ nah an dem Weg zu sitzen, den Sai Baba gewöhnlich geht. Diese Chance hatte auch mein Kollege genutzt und erhielt einen Platz unmittelbar an diesem Weg. Und nun war etwas für ihn Erschütterndes und Berührendes geschehen: Sai Baba hielt vor ihm an und sagte ohne jede Einleitung sinngemäß zu ihm: Es freue ihn, einen Schüler Rudolf Steiners zu sehen. - Gewöhnlich spricht Sai Baba mit seinen Devotees und Gästen entweder eine indische Sprache (bevorzugt Telugu) oder aber, wie auch in diesem Fall, Englisch.
Zwei Elemente waren es, die meinen Kollegen positiv erschüttert hatten. Erstens, so erzählte er, erlebte er eine Begegnung in einer kaum gekannten Qualität der Liebe. Zweitens berührte ihn, dass offensichtlich ein "Wildfremder" seine Erkenntnisarbeit anerkannte, die er im anthroposophischen Umfeld oft eher in Frage gestellt oder gar nicht beachtet erlebte.
Diese Erzählung und diese Gefühle berührten mich. Sie begannen meine Skepsis gegenüber einer Reise nach Indien aufzuweichen, die ich seit meiner frühen Jugend in mir trug. Für mich selbst kam aber eine Reise zunächst dennoch nicht in Frage. Denn was ich in der Folge über Sai Baba las, stimmte mich wiederum skeptisch: Das Phänomen der "Materialisationen", bei denen es "heilige Asche" aus seinen Händen regnen soll, und seine eigene Erklärung, er sei ein "Avatar", eine göttliche Inkarnation also (genauer: die Wiedergeburt Krishnas), überforderten meine Bereitschaft zu einer näheren Beschäftigung - noch.
Es sollte mehr als zwei weitere Jahre dauern, bis ich durch einen Unfall zu einer Physiotherapeutin kam, deren Praxis voller Bilder Sai Babas hing und die selbst bereits mehrfach bei ihm gewesen war. Die Offenheit ihrer Person und mein Interesse am Gespräch ergaben einen guten Mix für einen ausführlichen Austausch über spirituelle Fragestellungen und Erfahrungen. Ich nahm die Beschäftigung mit Sai Baba über verschiedene Literatur nochmals auf und übte mich in der von Rudolf Steiner angeregten "Nebenübung" der Offenheit gegenüber Neuem und Anderem. Schließlich beschloss ich, dem inneren Drang zu einer Begegnung nachzugeben. Denn einige der Ziele Sai Babas erkannte ich durchaus als die meinigen, zum Beispiel die Verbindung von Spiritualität und Lebenspraxis. Beeindruckend war für mich dann auch, dass offenbar neben dem Ashram ein Campus existierte, wo man an ein und derselben Universität einerseits technische und fachliche Studien betreiben (einschließlich eines M.B.A. und sogar Finanzmanagement) und andererseits Anweisungen in Spiritualität und Charakterbildung erhalten kann - ein Anliegen, das mich ursprünglich einmal zum Goetheanum geführt hatte. Leider ist hier das konkrete Angebot jedoch recht beschränkt, sodass ich hier meine Ausbildung selber gestalten musste.
War es möglich, dass Sai Baba eine indische Variante zeitgenössischer Anthroposophie sein könnte? Denn hier ging es doch offensichtlich um Lebenspraxis, um Menschlichkeit und Weisheit. Inzwischen gibt es in Puttaparthi sogar eine Hochschule für Musik, eine für Sai Baba sehr wichtige Kunst.
Natürlich war mir sofort klar, dass Sai Baba keinen denkerischen Schulungsweg anbietet, wie es die Anthroposophie tut. Damit verhindert er einerseits, dass sich geistiges Wissen ohne geistige Praxis und Erfahrung anhäuft, er unterläuft damit aber andererseits ein Bedürfnis vor allem des Europäers nach Selbstbestimmung, Kontrolle und eigenständigem Denken. Tatsächlich ist für Sai Baba dieses eigenständige Denken denn auch in der Regel nichts weiter, als ein Ausdruck von Egoismus und selbstbezogenen Bedürfnissen, einem Irrlichtelieren ohne moralische Rückbindung. Die dahinter liegenden Motivationen sind für ihn an eigenen Bedürfnissen oder instinktiven Wünschen orientiert, aber nicht oder nur teilweise an dem Wunsch, Weisheit zu erlangen und im eigenen Leben zu verwirklichen.
Sai Baba stellt sich als eine inkarnierte Gottheit dar, die gekommen ist, die Entwicklung Indiens bei der Etablierung der modernen Wirtschaft unter Bewahrung und Erneuerung der alten Spiritualität zu begleiten, sich für den Weltfrieden einzusetzen sowie alle ernsthaft spirituell Suchenden zu trösten und die spirituelle wie religiöse Praxis aller hohen Kulturen und großen Religionen zu fördern. Er selbst beschreibt, wie er dazu drei relativ kurz aufeinander folgende Inkarnationen durchmacht. Die jetzige ist die zweite davon. Mit Abschluss der dritten wird dann auch seine Mission abgeschlossen sein und er wird für mehrere tausend Jahre keine Inkarnation mehr anstreben.
Rudolf Steiner berichtet, wie sich von Zeit zu Zeit Wesen aus den höheren Hierarchien, vor allem Erzengel, in menschlicher Form inkarnieren, um ein Volksschicksal zu inspirieren und zu einer neuen kulturellen Entwicklung anzuleiten. Solche Wesen müssen dabei in sich keine Trennung mehr zu den höchsten göttlichen Kräften aufweisen und sind damit schwer exakt zu identifizieren. Als solch ein Wesen beschreibt sich also Sai Baba. Ob er es tatsächlich ist, könnte hier nur behauptet und mit Indizien belegt werden. Wer sich durch anthroposophische Schulung zur Wahrnehmung höherer geistiger Wesen bereitet hat, wird sich seine eigene Einsicht bilden wollen und können. Mein Interesse galt dann auch zunächst weniger einer theoretischen Anschauung oder Untersuchung als konkret dem Besuch der Wirkensstätte von Sai Baba. Dabei ging es mir auch darum, die ganze Organisation vor Ort anzuschauen, um zu sehen, ob hier etwas vielleicht auch für Europa Modellhaftes vorliegt.
Bevor ich näher beschreibe, was ich dort erlebte, möchte ich kurz auf die drei Inkarnationen Sai Babas eingehen. Sie sollen sich qualitativ sehr unterscheiden: Die erste Inkarnation verlief von 1854-1918 in Shirdi im Norden Indiens. Schon damals hieß er Sai Baba. Diese Inkarnation wird vor allem in Nordindien noch heute als Shirdi Sai Baba verehrt. Sathya Sai Baba beschreibt das Anliegen dieser ersten Inkarnation als "Heiligkeit leben". Seine jetzige Inkarnation sieht er unter dem Leitthema "Heiligkeit geben". Und die dritte wird das Thema haben "Heiligkeit lehren". "Heilig" ist dabei zu verstehen im Sinne von "heil machend", "Heilheit" und Ganzheit wiederherstellen. "Heiligkeit" bedeutet so die Integration der eigenen Geistigkeit und Göttlichkeit. Sai Baba ist dabei der Auffassung, dass die Aussage des Johannes-Evangeliums für alle Menschen gilt: Wir alle sind "Logos", sind als Logos göttlicher Natur und sind Fleisch geworden. Unsere Göttlichkeit leuchtet in der Dunkelheit des Fleisches, wird aber von ihm nicht erkannt. Es braucht also Aktivität, um das Licht der eigenen, ursprünglichen Göttlichkeit im Leben, im eigenen Leib zur Wirksamkeit und Entfaltung zu bringen.
Auffällig ist demnach, dass Sai Baba überzeugt ist, den ihn besuchenden und ehrlich suchenden Menschen das Erlebnis ihrer (und seiner) Heiligkeit vermitteln zu können. Und dann müssen sie selbst sehen, was sie damit machen. Wenn man ihn fragt, weist er auf die Schulung der Spiritualität und des Charakters hin sowie auf das selbstlose Dienen (Sewa) in dem Beruf, in der sozialen oder anderen Verantwortung in der man lebt oder die man bereit ist einzugehen. Und natürlich soll man sich einem spirituellen Schulungsweg (Sadhana) unterziehen. Hierzu gibt Sai Baba auch vielfältige Anleitungen. Und er regt dazu an, sich in der Sathya Sai Organisation mit Menschen zusammenzuschließen, die ebenfalls einen geregelten Schulungsweg gehen. Anders als am Goetheanum führt diese Vereinigung aber keine Gelder an den Ashram oder die Organisationsverwaltung ab. Bei Sai Baba basiert sehr vieles auf freiwilliger, gemeinnützig dienender Arbeit.
Sathya Sai Baba wurde Ende 1926 in Puttaparthi geboren, wo er auch heute die meiste Zeit lebt. Nach eigenen Aussagen hat er vor, 96 Jahre zu leben, um dann wiederum acht Jahre später seine dritte Inkarnation zu beginnen. Wenn man Sathya Sai Baba besuchen möchte, hat man also - will man ihm vertrauen - noch voraussichtlich bis ins Jahr 2022 Gelegenheit dazu.
Nach eigener Aussage ist Sathya Sai Baba aber nicht primär gekommen um Heiligkeit zu verschenken, sondern um Dharma (Rechtschaffenheit) zu fördern. Sai Baba unterscheidet dabei zwei Arten von Rechtschaffenheit. Die eine kommt von außen als Forderung der Gesellschaft, des Berufes oder der sozialen Rolle; die andere kommt von innen, aus dem Herzen oder der Freiheit des eigenen Gewissens, im Unterschied zu den Anweisungen durch das gebundene und unfreie Gewissen (verinnerlichter Anweisungen von Machtrepräsentanten) - : eine feine, aber wichtige Unterscheidung. Auch Rudolf Steiner spricht immer wieder von der führenden Rolle des eigenen Gewissens und betont die Notwendigkeit, Unterscheidungsfähigkeit zu üben. Unterscheidungsfähigkeit wird dadurch eines der wesentlichen Anliegen anthroposophischer Erkenntnisschulung. Und auch Sai Baba formuliert: "Was nützt dem Menschen all seine Kraft und Fertigkeit ohne Unterscheidungsvermögen?" - Sie erst ermöglicht ihm sein Menschsein.
In der Stimme des freien Gewissens kommt unmittelbar unsere Göttlichkeit zum Ausdruck, sie ist Atman Dharma, göttliche Anleitung zum Leben. Als Repräsentant von Atman Dharma agiert Sai Baba ähnlich wie einst Luther beim Aufstellen seiner Thesen. Luther aber war im Hinblick auf die anderen Menschen (das Volk) bekanntlich der Auffassung, dass der Mensch in der Regel zu sehr von der Erbschuld belastet sei, als dass er dem eigenen freien Gewissen folge könne. Daher müsse man ihm das richtige Leben vorschreiben und ihn bei Nichteinhaltung bestrafen. Hier liegt ein wesentlicher Ursprung unseres modernen Rechtsstaates. Zum Glück geben die meisten Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und Therapeuten in der Regel den Versuch noch nicht auf, den Menschen zu immer mehr Eigenverantwortung und Selbständigkeit anzuleiten und ihn daran zu erinnern, dass er durch seine Natur zu einem sozialen Wesen veranlagt ist, das nicht nur an sich selber denkt. In diesem Sinne verstehe und erlebe ich Sai Baba. Er ist ein großer Lehrer, Therapeut und Ausbilder, der den Menschen anzuleiten und anzuregen sucht, das Göttliche und Heilige in sich zu entdecken und ihm zur Entfaltung und zur Wirksamkeit zu verhelfen. Und hierzu hat er auch ganz konkrete Schulungsprogramme entwickelt, wie zum Beispiel simple aber unterstützende Verhaltensregeln für die Mitglieder der Sathya Sai Organisation oder das Programm zur Ausbildung in menschlichen Werten wie Liebe, Weisheit, Gewaltlosigkeit, (innerer) Frieden, Rechtschaffenheit (Gewissenstreue), das sowohl an seinen Hochschulen unterrichtet wird als auch und vor allem für das Zusammenleben mit und das Ausbilden von Kindern gedacht ist.
Der Erkenntnisweg der Anthroposophie unterscheidet sich vehement vom Anliegen Sai Babas, das Erlebnis von Heiligkeit zu vermitteln. Anthroposophie wurde von Kritikern ja auch bereits vielfach als verzweifelter und illusorischer Versuch interpretiert, eine Selbsterlösung und Selbsterleuchtung zu ermöglichen. Anthroposophen sind aus der Sicht dieser Kritik "Götter von eigenen Gnaden", denen es manchmal an sozial verträglicher Menschlichkeit fehlt, da sie sich nur selbst transformieren oder anderen ihre Überlegenheit vermitteln wollen. In der positiven Beschreibung ist Anthroposophie ein Erkenntnisweg, der das Göttliche im Menschen zum Göttlichen im Kosmos in Verbindung setzen, also verlebendigen und erneuern möchte. Schaut man auf eine zentrale Schrift Rudolf Steiners, die Philosophie der Freiheit, dann wird deutlich, dass auch hier konkrete Erlebnisse wichtig sind: "Wer sich der Idee nicht erlebend gegenüber stellen kann, gerät unter ihre Knechtschaft", heißt es dort unter anderem.
Anthroposophie als "Geheimwissenschaft" (so eines der Hauptwerke von Rudolf Steiner) enthält und vermittelt Göttlichkeit und Geist in der freilassenden Form der Ideen. Ob ich einen Erzengel oder ein hierarchisches Wesen denken und mich der dem Denken zugrunde liegenden Idee erlebend gegenüber stellen will, bleibt völlig in meiner Freiheit, Entscheidung und Selbstkontrolle. Anthroposophie als Lebenspraxis, zum Beispiel in der Medizin, in der Therapie oder Pädagogik lässt dem Nutznießer ihrer Früchte nicht in gleicher Weise diese Freiheit. Wenn es auch hier noch Abstufungen gibt, etwa die vergleichsweise größere Freiheit bei der Anwendung einer Therapie oder eines Medikaments als zum Beispiel bei dem Besuch der Waldorfschule durch ein Kind. Ist das ein Plädoyer gegen die Waldorf- oder Rudolf Steiner-Schule? Das wäre ein Missverständnis. Aber es geht mir darum, zu zeigen, dass konkrete Erlebnisse des Lebens immer einen wesentlich geringeren Freiraum lassen als persönliche Denkübungen und erlebendes Denken. Dennoch kommt es in der anthroposophischen Literatur zu eigentümlichen Stilblüten, zum Beispiel wenn von einer "Erziehung zur Freiheit" die Rede ist. Hier wäre es sicher der Freiheitsidee entsprechender, wenn man von einer "Entwicklung zur Freiheit" sprechen würde oder von "Hilfen (Anleitungen) auf dem Weg zur Freiheit".
Mein Besuch bei Sai Baba war von vielen ungewöhnlichen, vor allem inneren Erlebnissen geprägt. Wie bereits mein ehemaliger Arbeitskollege wohnte auch ich auf dem Gelände des Ashrams zunächst in einem Massenquartier, später zusammen mit einem anderen Deutschen in einem Doppelzimmer. Während ich das erste Mal in der Vorhalle auf einen Darshan Sai Babas wartete - und man wartet dort leicht mehrere Stunden, vor allem beim Morgendarshan bereits ab viertel vor vier bis ca. viertel vor sieben - überlegte ich mir verschiedene Fragen und Themen, die ich gerne mit Sai Baba besprechen würde, falls ich dazu Gelegenheit erhalten würde. Allerdings schien mir das angesichts mehrerer tausend Menschen, die auf die gleiche Gelegenheit warteten, recht unwahrscheinlich. Und es kam auch nicht dazu. Aber etwas anderes kam zustande. Nicht nur hatte ich zweimal Gelegenheit zu einem kurzen Wortwechsel mit Sai Baba und eine tatsächliche Freude, mehrmals unmittelbar an seinem Weg beim Darshan sitzen zu können. Ich hatte ein viel interessanteres Erlebnis gleich am ersten Morgen. Kaum war Sai Baba am Rande der Halle erschienen, vermeinte ich eine innere Stimme zu vernehmen, die mir vertrauter und doch ganz eindeutig anderer Art war als alles bisher gewohnte ( - nein, ich höre sonst keine fremden Stimmen). Sai Baba sprach zu allen Fragen, die ich vorbereitet hatte, auf eine für mich völlig befriedigende Art zu mir. In unseren kurzen persönlichen Gesprächen bestätigte er später die inneren Gespräche, die ich vom ersten Tag an über die 20 Tage meines Aufenthalts mit ihm führte oder zu führen suchte. Denn manchmal hatte ich gar keine Fragen oder Themen und saß nur einfach dort und beobachtete sein Verhalten in der Menge.
Diese besondere Art von Diskurs erinnert mich an Erfahrungen, die in Rudolf Steiners Mysteriendramen für diejenigen beschrieben werden, die auf dem anthroposophischen Schulungsweg gewisse Fortschritte machen. Ihnen kann es ergehen wie der Figur Johannes Thomasius. Als Johannes das erste Mal "Luzifer" und "Ahriman" erlebt, sind sie für ihn ein beglückendes Zeichen, dass er nun in seinen Meditationen zu realen geistigen Erlebnissen vorgedrungen ist. Diese Freude weicht in einer späteren Phase anderen Gefühlen, zum Beispiel der Verwirrung oder sogar der Bedrohung. Die Erlebnisse wandeln sich von freilassenden, scheinbar unverbindlichen "Zeichen" zu konkreten seelischen Erfahrungen, die im "Wesengefüge" des Menschen etwas auslösen können und wollen.
Im vierten Mysteriendrama beschreibt Rudolf Steiner durch die Figur des Benediktus zwei Arten von geistigen Wesen: die einen bieten sich dem Menschen an, um in ihm die Führung zu übernehmen, die anderen lassen dem Menschen die eigene Freiheit und dienen der menschlichen Entwicklung durch sanfte Impulse, die der Mensch selbst immer noch aufgreifen kann und muss. Eine weitere Form geistigen Erlebens vermittelt die so genannte "Schwelle" zur geistigen Welt und ihr "Hüter". Dieser wird in den Mysteriendramen mitunter recht scharf und deutlich und verweigert jede Unterstützung, wenn nicht eine gewisse Reife und Vorbereitung erreicht ist. Es sind also zunächst drei Arten von seelischen Wesen, denen wir begegnen: auf die eine oder andere Art verführende Wesen, die in unser Wesen oder unser Leben aus eigenen Interessen eingreifen wollen; dann Wesen, die uns unsere Nichteignung oder Unvollkommenheiten spiegeln und schließlich Wesen, die uns ihre Dienste, Unterstützung oder Geschenke anbieten, ohne in unser Verhalten einzugreifen. In ähnliche Kategorien lassen sich übrigens auch Menschen oder Arten der Begegnung mit anderen Menschen einordnen. Denn die gegebene Charakterisierung beschreibt ganz allgemein die Art, wie Menschen dem Geist oder dem Göttlichen (auch im anderen Menschen) begegnen können.
Ich persönlich habe meine Zeit im Ashram von Sai Baba als anregend und unterstützend erlebt. Ich habe auch Momente erlebt, in denen Sai Baba mir meine eigenen Schwächen gespiegelt hat. Ich hatte ihn darum gebeten. Er hat mir ein paar Impulse gegeben, mit diesen zu arbeiten, was mich noch einige Zeit beanspruchen würde, bevor ich auf weitere Anregungen eingehen könnte. Denn sein Angebot war reicher, als ich zunächst aufnehmen und annehmen konnte. Es ist nicht immer angenehm, viele Aufgaben vor sich zu haben und die eigene Unvollkommenheit anschauen zu müssen, auch wenn man selbst weiterkommen und die Hindernisse im eigenen Innern überwinden möchte. Ich erlebe mich dabei nicht so sehr durch die Potenziale begrenzt als durch Trägheit, liebe Gewohnheiten und Vorstellungen und das Bedürfnis nach Sicherheit in Form von Kontinuität. Evolution ohne Kontinuität, so scheint mir, stiftet Verwirrung, Kontinuität ohne Evolution hingegen führt zu Versteinerung.
Ist Sai Baba eine moderne Erscheinungsform eines Lehrers der Anthroposophie? - Ich denke, dass ich diese Frage getrost und sachgemäß verneinen muss. Das Schulungsangebot der Anthroposophie als Geheimwissenschaft und Lebenspraxis ist einmalig, originär und europäisch. Sai Baba ist indisch, einmalig und originär auf seine Weise. Rudolf Steiner und Sai Baba setzen sich gleichermaßen für eine Spiritualisierung des Menschen und der Lebenspraxis ein. Beide verbindet, dass sie sich ganz klar geographisch verorten, Rudolf Steiner als Europäer und Sai Baba als Inder. Beiden ist gemeinsam, dass sie ihre Anliegen als weltumspannend, allgemein menschlich und kosmopolitisch begreifen und beschreiben. Beiden ist auch gemeinsam, dass sie an einer Aktualisierung und Erneuerung des alten Mysterienwissens in einem modernen Umfeld ohne Verleugnung desselben arbeiten. Beide knüpfen dazu an die Traditionen ihrer jeweiligen Kulturumgebung an, Europa einerseits und Indien andererseits. Rudolf Steiner bezieht sich dabei auf die Denkschulung und das individuelle Denken, wie wir es seit der Antike kennen (können). Sai Baba bezieht sich vor allem auf die Heiligenverehrung und auf die persönliche Begegnung und Belehrung durch einen Guru oder Avatar, wie es in der indischen Kultur bereits seit ihren Anfängen üblich ist. Er betont dabei, dass er nicht auf einen bestimmten Ort angewiesen ist. Wenn man einmal den Kontakt zu ihm hat (der auch innerlich gefunden werden kann), dann kann er, wenn man es möchte, in der eigenen Seele, im eigenen Herzen immer wieder aufgesucht werden. - Rudolf Steiner sagte von seinen Schriften, dass man sie wie ein persönliches Gespräch mit ihm auffassen könne und, wenn man möchte, dies auch tun solle.
Auch Rudolf Steiner war zu seinen Lebzeiten für viele ein persönlicher Berater und Lehrer, ein Lichtbringer ("Guru" bedeutet wörtlich "Vertreiber von Dunkelheit" von "Gu" = Dunkelheit und "Ru" = Vertreiber von). Über sein Werk und vor allem über seine Schriften kann er es für manche Menschen auch heute noch sein und er ist es wohl häufig auch. Es wird allerdings immer schwieriger, die Texte, die teils eine starke Zeitbezogenheit zeigen, heute in einer mit dem eigenen Leben verträglichen Art zu lesen, ohne dabei Tendenzen von Anachronismus zu erleben. Vieles müsste hier aktualisiert werden. Dazu sind einige wenige Ansätze vorhanden - viel zu wenige. Zwar hat Rudolf Steiner bereits zu Lebzeiten immer wieder dazu eingeladen, individualisierte (und das heißt immer auch aktualisierte) Arbeiten zu den anthroposophischen Themen zu verfassen. Dieser Impuls wurde aber nur von wenigen aufgegriffen. Leider haben diese wenigen wie etwa der Dichter Albert Steffen dies oft mit der Geste des Monopolismus und des Auserwähltseins getan. Dass hier eine echte Aufgabe und ein Übungsfeld für die ganze aktive anthroposophische Bewegung liegen, wurde und wird zumeist ausgeblendet. Das verwundert umso mehr, als die Individualisierung des Umgangs mit Anthroposophie eine Aufgabe der Hochschule am Goetheanum sein sollte. Und es verwundert andererseits doch wieder nicht, da es Rudolf Steiner nicht mehr vergönnt war, diese Einrichtung wirklich zum Laufen zu bringen. Seine Nachfolger hatten dann in meiner Sicht vor allem drei Hauptinteressen: erstens die Bewahrung des Geschaffenen, zweitens die Förderung der Verehrung des Werks Rudolf Steiners und drittens die Förderung der praktischen Anwendung innerhalb einer auch dadurch wachsenden Anthroposophischen Gesellschaft. Diese organisiert sich auch als ein Verein gleich gesinnter Menschen (schließlich hat man über Mitgliederbeiträge und Spenden von Mitgliedern das Goetheanum zu finanzieren).
Rudolf Steiner fordert immer wieder: glaubt mir nichts, prüft alles. Er wünscht sich also individuelle Schulungswege und damit individuell aktualisiertes Geheimwissen und spirituelle Lebenspraxis. Wie schlecht sich das mit einer formal organisierten Gesellschaft vereinen lässt, macht er selbst durch die exemplarische Darstellung von Menschen, die einen individuellen Weg gehen, in seinen Mysteriendramen deutlich.
Kann es denn schon von daher gar keine Hochschule geben? Sicher nicht im Sinne eines Ortes einer bloß formalen Ausbildung. Das Individuelle müsste hier einen hohen Stellenwert bilden - eine Aufgabe sein, die sich heute auch an den gewöhnlichen Hochschulen stellt. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die in verschiedene Richtung unterstützend wirken, für den beruflichen Lebensweg ebenso wie für die spirituelle und sittliche Entwicklung, für die Charakterbildung.
Auf diesem Weg sehe ich in den Einrichtungen Sai Babas derzeit konkretere Schritte als etwa am Goetheanum. Ist Sai Baba also doch der bessere Anthroposoph? - Es kann jedenfalls nicht schaden, sowohl die Anforderungen der Zeit in Bezug auf Spiritualität und Lebenspraxis zu erforschen als auch andere, verwandte Strömungen auf ihre Lösungen für gleiche oder ähnliche Anliegen hin zu untersuchen und sich mit ihnen auszutauschen.
Wer einen persönlichen Lehrer sucht und sich vor einer Begegnung mit der indischen Kultur nicht scheut, wird in Sai Baba oder anderen Menschen (wie etwa Amma) sehr inspirierende, bereichernde und unterstützende Persönlichkeiten finden. Diese sind mit ihrer Persönlichkeit auch in der Lage, größeren Gruppen von Menschen ein Gemeinschaftserlebnis im Ringen um gleiche oder ähnliche Ziele zu vermitteln und sie zum konstruktiven Zusammenwirken anzuregen.
Wer allerdings einen konsequenten Schulungsweg seines denkenden Erkennens in der Tradition der spirituellen europäischen Kulturtradition sucht, wird um die Schulung an den Texten und Anregungen Rudolf Steiners nicht herumkommen. Für die Zukunft wird es aber erforderlich sein, vermehrt individualisierte Formen der Zusammenarbeit und der Erarbeitung dieser Schulung und ihrer Anwendung zu schaffen. Und diese Formen, Einrichtungen und Menschen dürfen sich dann nicht von einem möglichen Sektengeist irgendeiner Strömung einnehmen lassen, sondern sind aufgefordert, ihre eigenen Wege als Zeitgenossen zu gehen. Solche individuellen Wege fordern keineswegs eine Begegnung mit Sai Baba. Für viele wird es wichtiger sein, sich mit anderen Menschen in gleicher Interessensrichtung zu verbinden und sich in diesen Anliegen zu fördern und zu unterstützen, als diese Verbindung unter einem bestimmten Etikett stattfinden zu lassen. In dem Vortragszyklus Anthroposophische Gemeinschaftsbildung beschreibt Rudolf Steiner gerade dieses Vorgehen als die zukünftige Form eines angemessenen geistigen Zusammenwirkens: Menschen, die mit gleichen Anliegen in die Zukunft schauen, schließen sich zu Arbeits- und Lebensgemeinschaften zusammen, um diese Anliegen, Ziele und Wünsche zu verwirklichen.
Anthroposophie ist kein Etikett, kein Warenzeichen und keine Glaubensgemeinschaft. Anthroposophie ist eine bestimmte Art, die Welt und sich selbst anzuschauen und zu erleben. Sie schaut vom Menschen aus und interpretiert die Welt auf den Menschen hin. Sie unterstützt den Menschen bei der Aktivierung seiner geistigen und spirituellen Kräfte durch Denkübungen, Meditationen und Anregungen für die Lebenspraxis. Sie macht dabei keinen Unterschied nach Geschlecht, Alter, Religion oder Vorbildung. Sie verlangt also auch kein Bekenntnis zu irgendeiner Einrichtung, zu keinem Verein oder einer bestimmten Struktur. Sie fördert die individuelle Entwicklung in eine offene Zukunft, für die jeder selbst ein Stück Verantwortung übernehmen kann. Eine Zusammenarbeit mit Sai Baba ist dabei keineswegs ausgeschlossen.
Das Interesse, geeignete, der europäischen Kultur verbundene Hochschulen und andere Einrichtungen mit modernen Ausbildungen für spiritualisierte philosophische, künstlerische, pädagogische, wirtschaftliche und weitere Tätigkeiten zu schaffen und zu pflegen, bleibt auch für die Anthroposophie im Sinne Rudolf Steiners ein hohes Ziel und ein erstrebenswertes Anliegen.
Sai Baba macht in Indien etwas vor, was ich selbst nur bewundern und auch ein bisschen beneiden kann. In meinen Begegnungen mit ihm hat er mich aber auch durch konkrete Worte deutlich daran erinnert, dass ich zumindest jetzt kein Inder bin und meinen Weg in meinen Traditionen und weiter in enger Verbindung mit der Anthroposophie Rudolf Steiners suchen und gehen solle - eine wirkliche Aufgabe. Wer übrigens Sai Baba als einen allmächtigen Heiligen oder Heiler aufsucht und sich von ihm bedingungslose Heilung, Erleuchtung oder Wunder wünscht, wird mit absoluter Notwendigkeit bitter enttäuscht werden, wovon ja einige Kritiken, vor allem an der Person Sai Babas, durch enttäuschte Pilgernde deutlich zeugen.